Locu&Ruth 2023

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Vielfältige Jetztzeit

Locu&Ruth mit Still Standing im Residenzprogramm Kunsthaus Mitte in Oberhausen

von Christina Irrgang

„Der Gedanke, als künstlerische Ausdrucksform zu
stehen, kam aus dem Machen, aus dem Tun. Wir haben beide zudem ein Interesse an Fotografie und hatten eine Kamera dabei. So fingen wir an, unsere ersten Stände umzusetzen“, erzählen mir Marlene Ruther, Ruth, und Locuratolo, Locu, im April 2023 bei unserem Kennenlernen im Kunsthaus Mitte in Oberhausen (im Folgenden Kunsthaus genannt). Mit ihrem Projekt Still Standing ist das Künstler*innenduo Locu&Ruth im Rahmen des vom Kunsthaus ausgeschriebenen Residenzprogramms in diesem Frühjahr einen Monat lang dort zu Gast gewesen. Bereits im Oktober 2022 waren sie anlässlich dieses Stipendiums in Oberhausen unterwegs, haben ausgerüstet mit einer Kamera und Stativ verschiedene Orte innerhalb der Stadt aufgesucht, sind an ihnen jeweils 20 Minuten still stehen geblieben und haben ihre situativ ausgerichteten, performativen Aktionen filmisch dokumentiert. Nach ihrem Aufenthalt im April werden sie ein weiteres Mal im November dieses Jahres – ebenfalls im Zusammenhang mit dem Residenzprogramm – nach Oberhausen zurückkehren. Diese Situation bringt eine außergewöhnliche Intensität mit sich: denn hierdurch ist es den Künstler*innen möglich, sich mit ihrem gemeinsamen Projekt Still Standing über längere Zeiträume hinweg an und mit einem Ort zu befassen.

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Foto: Kunsthaus Mitte_Kerstin Bögeholz

„In Oberhausen bietet sich uns erstmals die Möglichkeit, ein Stadtgebiet über unsere Stände erschließen zu können, darüber auch die Stadt kennenzulernen und zu dokumentieren. Jetzt hier zu sein und in einigen Monaten wieder hierher zu kommen ist besonders, unter anderem auch deshalb, weil wir die Aufnahmen, die wir in Oberhausen machen, über den Verlauf der Zeit miteinander vergleichen können,“ berichtet Marlene und Locu ergänzt: „Das Schöne ist das Wiederkommen und Eintauchen in die Orte. Das Wiederkehren nach Oberhausen öffnet wirklich eine andere Ebene für unser Projekt Still Standing, denn wir porträtieren verschiedene Teile dieser Stadt, versuchen unterschiedliche Perspektiven (auf die Stadt und aus ihrem heraus) hervorzuholen. Dieses Projekt profitiert von der Zeit, die wir ihm hier geben können. Über das Kennenlernen der Menschen erfolgt auch ein Kennenlernen der Orte. Und wenn man sich lange und intensiv mit einer Stadt beschäftigt, dann erkennt und sieht man die Dinge anders. Es entsteht ein Gefühl für diese Stadt.“

Locuratolo hat Soziale Arbeit mit einem Schwerpunkt auf Improvisationstheater und politische Bildung studiert, in diesem Zusammenhang einen Master absolviert und zuletzt einen Bachelor der Freien Kunst mit Schwerpunkt In Situ an der Royal Academy of Fine Arts Antwerpen abgelegt. Ihr künstlerisches Schaffen habe sie auf die Umsetzung ortsspezifischer Arbeiten ausgerichtet, wobei die Fotografie sie seit vielen Jahren als Rechercheinstrument und zur Dokumentation, seit ihrer Kindheit aber bereits als solche begleite. Marlene Ruther hat zunächst Politik-, Medien- und Theaterwissenschaften studiert und hiernach einen Master in Szenischer Forschung an der Ruhr-Universität Bochum absolviert. Es ist das Szenische, das für ihre Arbeit am meisten Bedeutung erlangt habe, erzählt sie. Mit der Gruppe MFK Bochum befasst sie sich mit Theater an üblichen Orten und ohne dramatische Vorlage. Auch interessiere sie sich dafür, wie sich durch Atmosphären, etwa anhand von Musik und Tanz hervorgebracht, Räume der Lust gestalten lassen.

Locu und Marlene lernten sich 2018 im Rahmen einer Exkursion der Ruhr-Universität Bochum kennen, im Zuge welcher sie zum ersten Mal „gestanden“ haben. Das West-off-Stipendium des Theaternetzwerks Rheinland im Jahr 2019 gab ihnen den Anlass, eine Bühnenversion ihrer Aktionen zu entwickelt, die im Theater im Ballsaal, Bonn, auf der Studiobühne, Köln, sowie im Forum Freies Theater FFT Düsseldorf aufgeführt wurde und die von einem 60-minütigen Film ihrer bisherigen Stände begleitet wurde. Daraus ist ihr Performance-Format Still Standing entstanden und das Künstler*innenduo Locu&Ruth.

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Foto: Kunsthaus Mitte_Kerstin Bögeholz

„Im Grunde können wir überall stehen. Dabei ist es aber nicht so, dass wir an einem gewissen Tag den Stand umsetzen. Es geht um eine Art von Suche, eine Auseinandersetzung mit dem Ort und eine grundsätzliche Offenheit gegenüber dem, was uns begegnet“, sagt Marlene. Ihre Herangehensweise ist von formal-ästhetischen als auch von politischen Interessen geprägt. Oft seien es Orte, die man unmittelbar nicht fassen könne, die etwa ein gewisses Potenzial an Beobachtungsmoment in sich tragen würden, auch Orte, die stellvertretend für Diskurse stünden. Essenziell aber sei immer der Austausch mit Menschen und das Gespräch mit ihnen. „Es ist nicht immer ersichtlich, was in den Städten oder an den Orten, an denen wir einen Stand umsetzen wollen, los ist“, berichtet Locu, „die Gespräche mit Menschen geben Aufschlüsse darüber.“ Marlene ergänzt: „Wir fragen uns: Was sind wichtige Orte für die Menschen, die hier leben, aber auch, was erzählen die Orte von sich aus?“

Es ist Mitte April 2023: Im Kunsthaus hängt in Marlenes Zimmer eine große entfaltete Stadtkarte von Oberhausen an der Wand. Mit goldenen Klebepunkten sind Orte markiert, die Locu&Ruth bereits aufgesucht haben oder zu denen sie noch gehen möchten oder mit dem Fahrrad fahren wollen. Viele Markierungen finden sich in unmittelbarer Nähe des Kunsthauses und im Umfeld von Oberhausen Mitte, Orte, die sie sich etwa durch Spaziergänge erschlossen haben. Markante Stätten wie das Museum Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Christoph Schlingensiefs Herz Jesu-Kirche, der Gasometer Oberhausen, das Kulturzentrum Druckluft, das Einkaufszentrum Centro, das ehemalige Eisenwerk und nun LVR-Industriemuseum St. Antony-Hütte, das OQ Werk Ruhrchemie oder die örtliche Müllverbrennungsanlage GMVA Niederrhein sind Anlaufpunkte für Locu&Ruth. Doch auch Ziele am Stadtrand wie Altstaden oder Schmachtendorf zur Frühlingskirmes, die Region um den Abwasserkanal Emscher, wo der Flusslauf der Emscher renaturiert wird, oder der Sterkrader Wald, in dem eine Fahrraddemo gegen den Ausbau des Oberhausener Autobahnkreuzes und zum Erhalt der Waldfläche initiiert worden war, sind auf der Karte markiert, um dort einen Stand auszuführen. Locu erläutert: „An den Orten, für die wir uns für einen Stand, für ein Bild entscheiden, gibt es eine Art Reibungspunkt. Man weiß nie, was dort zu dieser Zeit, während wir performen, passiert, oder wer in diesem Moment vorbeikommt. Wir öffnen uns für den Raum und schauen, was sich ereignet.“

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Foto: Kunsthaus Mitte_Kerstin Bögeholz

Am nächsten Tag meines Besuches machen wir uns gemeinsam auf den Weg, verlassen um 10 Uhr das Kunsthaus mit Fahrrädern, nehmen auf der Route zu unserem Ziel nicht immer den direkten Weg, sondern auch Abzweigungen, um uns dem Ort anzunähern, ihn geografisch-atmosphärisch zu (er-)fassen.

Da die Tagesbedingungen, das heißt die Wetterlage und die Lichtverhältnisse in ihre Arbeit hineinspielen, kommt es vor, dass Locu&Ruth einen Ort mehrere Male aufsuchen, um an ihm einen Stand durchzuführen, so etwa auch die Freizeit-Golf-Anlage Topgolf. Nicht etwa das meterhoch gespannte Netz oder die unzähligen, auf dem Spielfeld verteilten weißen Golfbälle setzen Locu&Ruth ins Bild, sondern die dem Freizeitgelände auf einem Parkplatz vorgelagerten Strom-Zapfsäulen für E-Autos der Marke Tesla, neben denen sich die Künstler*innen positionieren. Hinter ihren Köpfen zeichnet sich in der Ferne der Gasometer Oberhausen ab, im Nahbereich des angrenzenden Industriegebiets befinden sich Großbauten mit Filialen von beispielsweise Wedding World oder dem Einrichtungsmarkt Poco. Ruth trägt eine dunkle, leicht schimmernde Jacke mit im Wind wehendem Haar und dunkler Sonnenbrille, Locu ist gekleidet in eine hellgelbe Bluse ergänzt durch ein weißes Oberteil, das in der Zugluft flattert, die Haare zurückgebunden unter einem Kopftuch, ihr Blick ist zunächst ebenfalls verborgen hinter einer dunklen Sonnenbrille im 1960er-Jahre-Look.

 „Wir haben mittlerweile eine gewisse Methode entwickelt, wie wir die Bilder realisieren, komponieren“, erzählt Locu: „Die Position zur Kamera, die Farben im Umfeld, die Wahl der Kleidung, das Verhalten der jeweiligen Stoffe bei Sonne und Wind…all das spielt eine Rolle. Wir tragen gefundene oder getauschte Kleidungsstücke, solche, die über Second-Hand-Märkte zurück in den Wertkreislauf gegeben werden. Mir sind Kreisläufe und Formen des Energieaustauschs wichtig. Es ist einfach super, dass wir durch diese Fundstücke, auch angereichert von solchen aus Oberhausen, ,angezogen‘ werden. Durch die so entstehende Vielfalt der Kleidung haben wir in unseren Bildern die Freiheit, mit Charakteren zu spielen.“ Marlene ergänzt: „Es gibt ja keine neutrale Kleidung, es gibt immer eine Geschichte dahinter. So funktioniert unsere Wahl der Kleidung oder auch die der Frisuren: Wie eine Einladung, im jeweiligen Bild eine spezifisch durchdachte Charakteristik aufzugreifen.“

Ich stehe Locu&Ruth nahe der Topgolf-Anlage gegenüber und beobachte sie, wie sie ihren Stand ausführen. Stelle mich neben sie und schaue in die Richtung, die auch sie fokussieren, während ihr Blick mal in die Kamera fällt, mal an ihr vorbeiführt. Im Hintergrund fährt in weiter Entfernung neben einer ausgetrockneten Wiese und gesäumt von verlassen wirkenden Schrebergartenhütten der Regionalexpress, mit dem ich gestern über Duisburg nach Oberhausen gekommen bin. Ich denke: Still Standing ist ein transversales Austreten aus der Zeit und zugleich ein Beobachten von Vorhandenem. In mich als Subjekt und den Moment versenkt, zieht alles andere weiter, wie der Zug, wie die Wolken, wie die an- und abfahrenden Tesla-Besitzer auf diesem Parkplatz. Das Stillstehen ist eine Handlung, die für die Vielheit unabdingbar wäre, so mein Impuls im ausgedehnten Schauen und Erfahren dieses dystopischen Ortes. Ich denke so außerdem an das Buch Demokratie im Präsens von Isabell Lorey, das ich auf der Zugreise anfing zu lesen. Ihre darin erörterte Theorie zur politischen Gegenwart spüre ich umgesetzt in der philosophischen Geste von Locu&Ruth – es ist die Erfahrung zusammengesetzter Zeitmomente als Konstellation von Vergangenem und Gegenwärtigem; ein Angebot, diese vielfältige Jetztzeit im Ist miteinander zu teilen.

Später frage ich die Künstler*innen, welches Körpergefühl sie bei ihren Ständen begleite, und Locu antwortet: „Wir legen den Blick in die Kamera ab. Bei diesem Akt des Schauens entsteht auch eine Unschärfe des eigenen Sehens um die Kamera herum. Es gibt für mich verschiedene Ebenen der eigenen Wahrnehmung, des Körpergefühls und des Seins in diesen Situationen. Es gibt Geräusche im Umfeld, manchmal Präsenz von anderen Körpern, auch das Material der Umgebung und der natürliche Raum wirken auf mich ein, ich nehme Marlene wahr und ihre Stimmung. Bei mir ist es zuweilen so, dass ich mich ähnlich wie in einem Zustand der Meditation befinde. Es ist ein Stattfinden im Raum, ein Selbstpausieren, ein Innehalten in der Schnelllebigkeit; und auf der anderen Seite eine Öffnung gegenüber dem Sein, das eine Art Verbundenheit erzeugt, auch zwischen uns als Künstler*innen.“ „Für mich ist es eine Pause“, sagt Marlene. „Nicht reden. Stehen, schauen. Manchmal gehe ich eine imaginäre Verbindung mit dem Ort ein, eine Bezugnahme, die real nicht existiert. Wenn viele Menschen vorbei kommen gibt es Reaktionen. Es ist wichtig, das Ziel dieser Aktion – das Stehen – vorab zu verinnerlichen. Manche Orte sind nicht gemacht für den menschlichen Aufenthalt. Es geht viel um das Spüren dessen, was uns umgibt.“

Am Abend dieses Tages sichten die Künstler*innen wie allabendlich nach einer durchgeführten Aktion das von ihnen während eines Stands aufgenommene, filmische Material. Dabei wird deutlich, ob sich das gewonnene Bild tatsächlich im filmischen Medium beziehungsweise im Videobild einlöst, es dient, ja ob es interessant anzuschauen ist, oder ob es aussortiert und eventuell wiederholt werden sollte. „Es kommt vor, dass das filmische Material eine visuelle Differenz zu dem Gefühl aufweist, das noch beim Entstehen eines Bildes bestand. Es gibt Orte, bei denen es eine echte Herausforderung ist, zu stehen oder gar diesen Ort auszuhalten, natürlich auch witterungsbedingt wie durch kalten Wind oder aufziehenden Regen. Das sehen wir nachträglich an unserer Mimik beim Betrachten der Videos“, bemerkt Locu. Seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit haben Locu&Ruth nunmehr ein Archiv aus über 400 Aufnahmen geschaffen.

Am letzten Tag ihrer Residenz im Kunsthaus, Ende April, komme ich zu einer ersten Vorstellung ihrer Arbeiten, die während ihres Aufenthalts in Oberhausen entstanden sind. Anknüpfend an das jede zwei Wochen im Kunsthaus stattfindenden Kunst & Kochen-Programms, empfangen Locu&Ruth als besonderes Arrangement für diese Situation alle Gäste und Passant*innen auf dem Gehweg vor der Eingangstür des Hauses mit einer großen Platte bedeckt von frischem, geschnittenen Obst und Gemüse. Im Wechsel halten Locu&Ruth die Platte mit Paprika, Kohlrabi, Gurke, Chili, Limette, Champignons, Fenchel, Tomate, Karotte, Radieschen, Ingwer, Erdbeeren, Blaubeeren, Kiwi, Apfel, Birne, Banane, Rhabarber. Mit einer Geste der absoluten Gastfreundschaft veranlassen sie, dass die an ihrer Intervention Partizipierenden miteinander essen und reden, während neben Locu&Ruth auf einem Monitor ein Zusammenschnitt ihrer bisher durchgeführten und ausgewählten Stände in Oberhausen zu sehen ist. Später am Abend laden Locu&Ruth dazu ein, an dem diesen Residenzmonat abschließenden Stand vor dem Kunsthaus Mitte in Oberhausen teilzuhaben.

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Foto: Kunsthaus Mitte_Kerstin Bögeholz

Ein über die Residenz hinausführendes Vorhaben ist es nun, aus den in Oberhausen gewonnenen Bildern ihres Still Standings filmische Präsentationen an unterschiedlichen Orten der Stadt in Form einer Tour durchzuführen. So etwa im polnischen Restaurant und Jazz-Lokal Gdanska, das wir an einem Abend gemeinsam aufgesucht hatten. Bei ihren Screenings, bei denen ihre Filme auf großer Leinwand zu sehen sind, stehen Locu&Ruth direkt neben den von ihnen projizierten Bildern. Ihre Intention ist es, einen Dialog anzustoßen: durch das Stehen, das Schauen, durch Blicke und durch ihre Handlung und Haltung.





©Kunsthaus Mitte 2022