Naoko Tanaka


Eine Art Kamishibai für Oberhausen

Naoko Tanaka im Kunsthaus Mitte in Oberhausen

 von Christina Irrgang

„Während meiner Residenz im Kunsthaus Mitte in Oberhausen bin ich oft in der Innenstadt spazieren gegangen. Nach diesen langen Regentagen im Sommer gab es einen Tag voller Sonnenschein und gefühlt alle Menschen saßen draußen in den Cafés der Marktstraße. Einen solchen Zusammenhang von äußerer Landschaft und innerem Zustand wollte ich mit meinem Film herausarbeiten – inspiriert vom Regen, dem Verwischen, und vom Inneren, das nach einer solchen Situation der Zurückgezogenheit aus den Menschen heraustritt“, erzählt mir Naoko Tanaka, die im August und November 2023 ihren Residenzaufenthalt in Oberhausen absolvierte.

Die Künstlerin hatte gezielt für die Residenz im Kunsthaus ein Projekt entworfen, das sie in Berlin, wo sie lebt und arbeitet, aufgrund fehlender Nischen so nicht hätte umsetzen können, wie sie sagt. Ausgehend vom Kamishibai, dem traditionellen japanischen mobilen Papiertheater oder Märchenbilderschaukasten, bei dem ein:e Erzähler:in auf offener Straße Bilder in einem Schaukasten aus Holz präsentiert und dazu Geschichten erzählt, hat Naoko Tanaka ein Fahrrad konzipiert, das einen Projektor und eine Leinwand auf sich trägt, die einen handgezeichneten Animationsfilm der Künstlerin zeigt.

DS4A1541 BA


Naoko Tanaka, 1975 in Tokio geboren, studierte Malerei und Bildende Kunst an der Universität der Künste in Tokio, bevor sie im Alter von 24 Jahren nach Düsseldorf zog und ihr Studium an der Kunstakademie im Bereich der Bildhauerei bei Magdalena Jetelová fortsetze. In Düsseldorf kam Tanaka darüber hinaus in Berührung mit Tanz und Performance und erweiterte ihre Installationen daraufhin um tänzerische Aspekte, die sie nach ihrem Umzug nach Berlin ab 2010 zu eigenen Bühnenproduktionen weiterentwickelte – sie wurden international rezipiert. Licht und Schatten sind Material wie Form, die Naoko Tanaka seither in ihrer künstlerischen Arbeit begleiten und mit denen sie Werke schafft, die oftmals auf Realistischem basieren, doch den Raum des Imaginativen ansprechen.

„Über die Jahre hinweg hatte ich das Zeichnen fast aufgegeben. Dabei habe ich bereits als Kind gezeichnet, als Teenager vor allem Stillleben: etwa eine Tasse oder eine Hand. Ich habe Dinge intensiv angeschaut um auf eine Ebene zu kommen, die über das Objekt oder das Gesehene hinaus geht, ein Bewusstsein, das sich hiervon ablöst. Erst in der Zeit der Pandemie habe ich wieder begonnen, mich mit der Zeichnung als Medium auseinanderzusetzen“, berichtet Tanaka. Die Möglichkeit zur freien Realisierung eines Projektes im Rahmen des Residenzstipendiums des Kunsthaus Mitte in Oberhausen hat sie dann zum Kamishibai zurückgeführt, das noch in Naoko Tanakas Kindheit in Japan sehr verbreitet gewesen ist. „Elementar sind hierbei Bild und Text. Diese Situation des Schauens der Bilder und Zuhörens des Vorgelesenen hat für mich einen großen Vorstellungsraum geöffnet. Vor diesem Hintergrund hatte ich anfangs gedacht, in Oberhausen an einer Art Schattenspiel zu arbeiten. Dann habe ich mich für die Zeichnung entschieden. Ich finde es wichtig, mit künstlerischer Freiheit und Poesie etwas auszuprobieren. Es ist mein Traum gewesen, eine solche Arbeit realisieren zu können“, ergänzt Tanaka.

DS4A1503


Beim Durch-die-Stadt-Laufen und Fotografieren verschiedener Straßenzüge sammelte Naoko Tanaka im August zunächst situative Momente, betrachtete Stadtkarten und Publikationen über Oberhausen. Doch auch das Vergessen dieser Bilder, Verinnerlichen und Verknüpfen mit persönlichen Erfahrungen und Atmosphären, die sich im zweiten Residenzmonat im November nochmals verdichteten, ist essenziell für ihre hier umgesetzte Arbeit.

Hervorgegangen ist aus diesen Wegen und Blicksammlungen der von ihr handgezeichnete Film Stadt(T)RäumeBilder-Schaukasten (2023). Er entfaltet sich über Linien und Konturen, die Häuser bilden, füllt sich mit Fenstern und Dächern, formiert Ecken und Kanten und besitzt harte Oberflächen – vereinzelt geschriebene Worte durchdringen die wachsenden Architekturen aus Bleistift. Tanaka navigiert den Blick hinein in verschachtelte Hinterhöfe und entlang von Häuserzeilen und mit Laternenmasten gesäumten Straßen – bis die Nacht fast flüchtig durch eine verdunkelnde Schraffur über die städtische Landschaft hereinbricht.

„Durch die Bilder versuche ich einerseits, das Realistische abzubilden, also die Stadt Oberhausen. Doch auch das nicht Greifbare, Träumerische, Märchenhafte“, bemerkt die Künstlerin und fährt fort: „Es taucht im Film zwar vereinzelt Text auf, doch der Film beinhaltet kein Narrativ. Vielmehr versuche ich, dieses Spannungsfeld zu umfassen: Wie lässt sich durch visuelle atmosphärische Szenen etwas erzählen, ohne viele Worte dafür zu benötigen? Der Film folgt einer Idee: Die Stadt schmilzt in der Nacht, wenn niemand Licht anmacht – wie nach einem langen Regen. Und nachdem die Stadt begonnen hat nachgiebig zu werden, treten auch die Innenwelten der Lebewesen, die sie bewohnen, sichtbar hervor.“

Standbild4


So verdunkelt sich die Stadt, wird zu einer schwarzen vorbeihuschenden Wolke – und wo zuvor harte Kanten vorherrschten, schmelzen Konturen, zeigt sich alles Weiche, das in ihr aufbewahrt wird, in ihr lebt. Häuser werden zu Haut, Wände werden zu Flächen und Fensterscheiben lösen sich in ihnen wie der Blick aus einem Fenster heraus auf – kein Du, kein Ich mehr. Träume, Seele oder Inneres von Menschen und Tieren steigt in Form von weißen Kugelblasen auf, zieht in den Himmel hinein wie Dampf, bildet weiße Wolken und schließlich eine helle Lichtkugel, die über der nächtlichen Stadt schwebt.

Gesehenes überlagert sich, scheint auf, verschwindet wieder. Naoko Tanakas Bilder fließen ineinander und lassen Raum, die eigene Imagination in das Gesehene zu integrieren, sich von ihr forttragen zu lassen wie eine schattenwerfende Erinnerung oder ein projektives Licht der Fantasie.

„Sobald die Stadt geschmolzen ist, umfassen die Zeichnungen meine Erinnerung an das Gesehene, verknüpft mit Subtilem, das mir auf meinen täglichen Wegen durch die Stadt begegnete: Geräusche wie die Stimmen von jungen Müttern mit Kindern, oder Blicke, die sich kreuzten. Diese Erfahrungen haben sich in mir zu Vorstellungen verdichtet, die sozusagen langsam fermentierten und einen inneren Dialog zwischen mir und dem Ort mit seinen Menschen hervorbrachten, den ich in meine Zeichnungen übertrug. Ich möchte mit meinem Film den kollektiven, verborgenen, imaginativen Teil, der uns allen innewohnt, hervorholen und ansprechen.“

DS4A0034


Die Künstlerin hat sechs Wochen intensiv an den Bildern für den etwa siebenminütigen Film gezeichnet. An einem Schreibtisch, den Tanaka in ihrem Residenzzimmer im Kunsthaus eingerichtet hat, finden sich Papier, Graphitstifte und ein Stativ für ihre Kamera: Blatt für Blatt zeichnete die Künstlerin so einzelne Szenen, bei denen sie mit Radiergummi Gezeichnetes wieder wegnahm oder mit der Hand verwischte, um die Momente vor und nach dem Einbruch des imaginären Regens zu erzeugen. Jeden Zeichenschritt dokumentierte Tanaka fotografisch, um die Bilder der sich stets wandelnden Einzelblätter dann durch Überblendung zu einem Stop-Motion-Film verschmelzen zu lassen, in dem Bilder ihrerseits fließend entstehen und wieder verschwinden.

Um den Film Stadt(T)RäumeBilder-Schaukasten ähnlich des Kamishibai mobil zu zeigen, präparierte Naoko Tanaka dann ein Fahrrad mit einem Projektor am vorderen Teil des Rades und einer wetterfesten Rückprojektionsfolie im hinteren Bereich. Für diesen im Kunsthaus entwickelten Prototyp wird ein Gastgeber benötigt, der Strom für den Projektor spendet. So machte sich Tanaka im zweiten Teil ihrer Residenz, Ende November, auf den Weg in die Innenstadt von Oberhausen und fragte auf der Marktstraße bei ausgewählten Einzelhändlern oder Institutionen, ob sie ihr für ein Kunstprojekt Strom leihen würden.

DS4A1562 BA


„Ein Obstverkäufer, der meine mobile Installation mit Strom versorgte, entdeckte beim Schauen des Filmes inmitten der gezeichneten Bilder seinen Balkon. Ich habe viel in Innenhöfen gezeichnet, da die Situation intimer ist – die Häuser haben dort andere Gesichter. Doch eine Ecke fand ich besonders interessant und es zeigte sich, dass es das Haus war, in dem der Obstverkäufer lebt. Er hat dann einige vorbeiziehende Menschen auf der Straße herbeigerufen, den Film zu schauen, und mir Mandarinen geschenkt.“

Menschen, die auf der Marktstraße einkaufen oder in ihrem Umkreis leben, der von Migration und vielen Nationalitäten geprägt ist, machten Halt. Ein gebürtiger Iraker blieb stehen und erkannte sein Oberhausen. Kinder umkreisten die Installation und folgten den stillen Bildern, die hier nun von Gesprächen umhüllt wurden, die sich zwischen den verweilenden Menschen am Obststand ereigneten, nahe der Pfarrkirche Herz Jesu am Altmarkt, vor dem Lichtburg-Filmpalast oder zwischen den Schritten all jener Passant:innen, die über den Asphalt der Stadt vorbeizogen. Sie luden für einen Augenblick der ephemeren Magie ein, selbst mehr Kind zu sein und in innere Landschaften einzutauchen.

Wenige Tage später dann war Naoko Tanakas Installation anlässlich der Jahresausstellung im Kunsthaus zu sehen: Das Fahrrad fand nun Platz inmitten ihres dortigen Arbeitsraums neben dem Schreibtisch, der ihre Zeichnungen und Arbeitsskizzen zeigte, umhüllt von Recherche-Zeichnungen und fotografischen Aufnahmen der Installation, wie sie wenige Tage zuvor noch inmitten der Stadt an verschiedenen Standorten zu sehen gewesen war.

„Woher kommt diese schöpferische Kraft, die wir Kunst nennen?“, fragt Naoko Tanaka und hebt sogleich hervor: „Diese Kraft ist in Oberhausen, wie im Kunsthaus, sehr deutlich zu spüren und berührt mich. Ich finde es wichtig, meine hier produzierten Bilder in die Stadt zurückzugeben. Mein Ziel ist, ein möglichst breites Spektrum an Menschen anzusprechen – nicht nur das intellektuelle Kunstpublikum, sondern etwa auch Kinder und ältere Menschen zu erreichen, auch diejenigen, die in ihrem Alltag kaum mit einer Kunstwelt in Berührung kommen und dennoch die Sehnsucht nach einem poetischen Moment in sich tragen. Ich möchte das Projekt sehr gerne im nächsten Sommer fortsetzen.

2

©Kunsthaus Mitte 2022